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Wissensgerechtigkeit

Was bedeutet Wis­sens­gerechtigkeit? Natür­lich müssten in den Entwickler*innen-Teams möglichst diverse Per­spek­tiv­en vertreten sein. Aber wir wer­den unsere Prob­leme nicht lösen, wenn wir nicht unser Mind­set ändern. Inwiefern kann eine inter­sek­tionale Per­spek­tive auch in der Net­zpoli­tik zu mehr Gerechtigkeit führen?

  • Gemeinwohl
  • Datenpolitik

Interview

  • Francesca Schmidt

Gerechtigkeit als Zweibahnstraße

Was sind die Ker­nan­liegen fem­i­nis­tis­ch­er Net­zpoli­tik?

FRANCESCA SCHMIDT: Eine fem­i­nis­tis­che Poli­tik für das Netz muss Fra­gen nach Reg­ulierung stellen, ord­nungspoli­tis­che Fra­gen, Zukun­fts­fra­gen. Wenn wir einen Schritt zurück­ge­hen und uns anschauen: Was ist über­haupt fem­i­nis­tis­che Poli­tik?, dann ver­ste­he ich darunter – dur­chaus in einem utopis­chen Sinne – eine diskri­m­inierungs­freie Poli­tik, in der Aspek­te von Gen­der, Alter oder Herkun­ft zu kein­er­lei Aus­gren­zung mehr führen.

Inwiefern kann eine inter­sek­tionale Per­spek­tive auch in der Net­zpoli­tik zu mehr Gerechtigkeit führen?

Inter­sek­tion­al­ität bedeutet ja, ver­schiedene Diskri­m­inierungs­for­men zu beleucht­en, die teil­weise übere­inan­dergelegt passieren. Es gibt Men­schen, die von mehrfach­er Diskri­m­inierung betrof­fen sind. In der Net­zpoli­tik lässt sich das am Beispiel von Überwachung ver­an­schaulichen, bei der Gesicht­serken­nungssoft­ware. Es ist bekan­nt, dass Schwarze Gesichter schlechter iden­ti­fiziert wer­den als weiße.*
Das lässt sich noch weit­er aus­d­if­feren­zieren: Schwarze Frauen wer­den am schlecht­esten erkan­nt – immer im Ver­hält­nis zu weißer Männlichkeit, die ja in unser­er het­ero­nor­ma­tiv­en Matrix die Norm darstellt. Solche inter­sek­tionalen Analy­sen sind wichtig, um spez­i­fis­ch­er schauen zu kön­nen, wie das Prob­lem gegebe­nen­falls zu lösen wäre: welche Arten von Reg­ulierung es bräuchte, welche Fra­gen wir über­haupt an Tech­nolo­gie stellen müssen.

Tech­nolo­gie wird unsere Prob­leme nicht lösen, wenn wir nicht unser Mind­set ändern

Francesca Schmidt

Wie kön­nte Kün­stliche Intel­li­genz (KI) fem­i­nis­tis­ch­er entwick­elt wer­den?

Zunächst mal braucht es ein Grund­ver­ständ­nis, dass Diskri­m­inierung stat­tfind­et – und dass Men­schen unter­schiedlich von Diskri­m­inierung betrof­fen sind, je nach­dem, wie sie sich verorten oder verortet wer­den: etwa als Schwarze Frau, als Schwarze les­bis­che Frau, als Schwarze les­bis­che arme Frau. Wir müssen alle Arten von Diskri­m­inierung in den Blick nehmen, auch Klas­sis­mus, Ableis­mus.
Wenn es um die Entwick­lung von KI geht, hil­ft uns dieses Ver­ständ­nis, dass die Welt sehr kom­plex ist und man sie in dieser Kom­plex­ität auch abbilden muss, schon weit­er. Natür­lich müssten in den Entwick­lerin­nen- und Entwick­ler-Teams möglichst diverse Per­spek­tiv­en vertreten sein. Eins der Prob­leme ist ja, dass diese Teams über­wiegend weiß und männlich beset­zt sind. Dementsprechend eng ist oft der Hor­i­zont dafür, dass es andere Posi­tion­ierun­gen gibt als die eigene. Tech­nolo­gie wird unsere Prob­leme nicht lösen, wenn wir nicht unser Mind­set ändern.

Welche Rolle spielt Hate Speech, wenn es um eine fem­i­nis­tis­che Agen­da im Netz geht?

Eine große. Allerd­ings benenne ich das Prob­lem lieber als dig­i­tale Gewalt, weil der Begriff mehr fasst als nur Hate Speech. Von dig­i­taler Gewalt sind in den herrschen­den Macht­struk­turen wiederum einige Men­schen mehr, andere weniger betrof­fen. Durch inter­na­tionale Stu­di­en wis­sen wir, dass sie prozen­tu­al deut­lich mehr Frauen trifft. In Deutsch­land gibt es lei­der kaum Unter­suchun­gen dazu. Um auch hier inter­sek­tion­al zu dif­feren­zieren: Frauen of Colour, Schwarze Frauen, LGB­TIQ-Per­so­n­en haben das größte Risiko, dig­i­taler Gewalt aus­ge­set­zt zu wer­den. Das ist schon deshalb ein wichtiges The­ma aus net­zpoli­tis­ch­er und fem­i­nis­tis­ch­er Per­spek­tive, weil auch Gewalt im Part­ner­schafts­bere­ich zunehmend auf dig­i­tale Struk­turen zurück­greift, etwa in Form von Cyber­stalk­ing oder Online-Harass­ment.

Welche Rah­menbe­din­gun­gen kann Poli­tik für mehr Wirk­samkeit fem­i­nis­tis­ch­er Anliegen in der Net­zpoli­tik set­zen?

Ein­er­seits kann sie die zivilge­sellschaftlichen fem­i­nis­tis­chen Struk­turen finanziell bess­er fördern. Das gilt natür­lich auch für Beratungsstruk­turen zu dig­i­taler Gewalt. Ander­er­seits soll­ten die poli­tis­chen Prozesse viel mehr darauf aus­gerichtet sein, Diskri­m­inierung abzubauen – und nicht ein­fach nur einen Sta­tus quo zu erhal­ten. Auch da wäre eine Änderung des Mind­sets notwendig.

Wir brauchen die Offen­heit, den beste­hen­den Wis­senskanon kri­tisch zu hin­ter­fra­gen. Auch das ist für mich Wis­sens­gerechtigkeit“

Francesca Schmidt

Die Wiki­me­dia-Bewe­gung hat das Anliegen „Wis­sens­gerechtigkeit“ strate­gisch ins Zen­trum ihrer Arbeit bis 2030 gestellt. Das Ziel ist, soziale, poli­tis­che und tech­nis­che Hür­den abzubauen, damit alle Men­schen Freies Wis­sen nutzen und schaf­fen kön­nen. Was bedeutet „Wis­sens­gerechtigkeit“ aus Ihrer Sicht?

Zum einen: Zugangs­gerechtigkeit. Das bedeutet, über­haupt den Zugang zu Wis­sen zu ermöglichen. Genau so hängt daran aber auch die Frage: Wessen Wis­sen wird über­haupt als solch­es wahrgenom­men und find­et Gehör? Aus fem­i­nis­tis­ch­er Per­spek­tive ist die Wikipedia da kein rühm­lich­es Beispiel. Wis­sens­gerechtigkeit ist eine Zweibahn­straße: Auf der einen Seite muss sie auf der Nutzungsebene ermöglicht und gefördert wer­den, was damit begin­nt, über­haupt lit­er­a­cy herzustellen, also Lese- und Schreibkom­pe­tenz. Auf der anderen Seite braucht es die Offen­heit, den beste­hen­den Wis­senskanon kri­tisch zu beleucht­en und zu hin­ter­fra­gen. Das fällt für mich auch unter Wis­sens­gerechtigkeit.

Wie schaf­fen wir bessere Zugänge zu Wis­senscom­mu­ni­tys im Netz?

Zunächst mal ist das eine Frage von physis­chen Zugän­gen zum Inter­net, die ermöglicht wer­den müssen. Man denkt ja gemein­hin, das sei in Deutsch­land kein Prob­lem. Ger­ade in Coro­na-Zeit­en sehen wir aber auch hier ein Gefälle von Zugän­gen, etwa, wenn es um Home­school­ing geht. Der andere Punkt ist, Zugänge zu Inhal­ten nicht zu mon­e­tarisieren. Das fängt bei den Such­maschi­nen an, die Algo­rith­men bauen, um bes­timmte Inhalte nach vorn zu brin­gen, andere nicht. Wer dieses Sys­tem zu nutzen ver­ste­ht, kann sich Vorteile ver­schaf­fen. Das ist keine Gerechtigkeit, weil daran natür­lich auch Ressourcenfra­gen hän­gen.

* zur Schreib­weise von weiß und Schwarz:

Die Großschrei­bung von Schwarz ver­weist auf die Strate­gie der Selb­ster­mäch­ti­gung. Es zeigt das sym­bol­is­che Kap­i­tal des Wider­standes gegen Ras­sis­mus an, welch­es ras­sis­tisch markierte Men­schen und Kollek­tive sich gemein­sam erkämpft haben.
Die Klein- und Kur­sivset­zung von weiß ver­weist auf die soziale Kon­stru­iertheit von Dif­ferenz­markierun­gen, wobei weiß üblicher­weise unmarkiert bleibt. Da im Gegen­satz zu Schwarz dieser Dif­ferenz­markierung kein Selb­ster­mäch­ti­gungs- und Wider­standspoten­zial innewohnt, wird weiß auch nicht großgeschrieben.

  • Mehr dazu in kurz: https://www.gwi-boell.de/de/reach-everyone-planet-kimberle-crenshaw-und-die-intersektionalitaet
  • Mehr dazu in lang: Eggers, Mau­reen Maisha et al. (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Sub­jek­te : kri­tis­che Weiss­seins­forschung in Deutsch­land. Mün­ster: Unrast.

Francesca Schmidt

Francesca Schmidt ist Referentin für Feministische Netzpolitik im Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie. Schmidt beschäftigt sich mit Fragen digitaler Gewalt, Überwachung, Algorithmen und Künstlichen Intelligenzen. Ihr Buch "Netzpolitik. Eine feministische Einführung" erschien 2020. Sie ist Gründungsmitglied und Vorständin von Netzforma* e. V. - Verein für feministische Netzpolitik.

Interview

  • Emilia Roig

Die Macht des Wissens im Wandel

Als uni­verselles Wis­sen gilt immer noch das, was als „Uni­ver­sitätswis­sen“ let­ztlich von ganz weni­gen Men­schen stammt. Welche Auswirkung hat das?

Eine tiefe Auswirkung, näm­lich, dass bes­timmte For­men von Wis­sen aus­ge­blendet bleiben. Die Erfahrun­gen von Ex-Kolonisierten und ihren Nach­fahren wer­den weitest­ge­hend negiert, ihre Per­spek­tiv­en als sub­jek­tiv, als Erfahrungs­berichte gese­hen – und nicht als Wis­sen mit großem W. Das Prob­lem ist, dass die herrschen­den Per­spek­tiv­en als objek­tiv-neu­tral gel­ten, dass die Erzäh­lung von Geschichte in Büch­ern oder in schulis­chen Kon­tex­ten bes­tim­men. Auf­brechen kön­nen wir das nur, indem wir grund­sät­zlich unsere Vorstel­lung von Wis­sen infrage stellen, offen disku­tieren, was wir bish­er als Wis­sen kon­stru­iert haben und welche Auswirkun­gen das hat­te – damit wir Alter­na­tiv­en entwick­eln und aus anderen Quellen schöpfen kön­nen.

Wis­sen ist ein Gemein­schaftsgut, das allen zugänglich sein sollte – so sehen es auch die Zehn­tausenden Frei­willi­gen, die weltweit ihr Wis­sen in Wikipedia teilen. Wie passt dieser Anspruch mit der west­lichen Form der Enzyk­lopädie zusam­men?

Natür­lich lehnt sich Wikipedia an das Mod­ell Enzyk­lopädie an, aber his­torisch gese­hen waren Enzyk­lopä­di­en nicht zugänglich. Die Quelle des Wis­sens war exk­lu­siv – und sie war kolo­nial. Die soge­nan­nte Rassen­lehre hat­te einen fes­ten Platz in diesen Nach­schlagew­erken, bis vor rel­a­tiv kurz­er Zeit. Deswe­gen ist es wichtig, dass es ein Sys­tem von Checks and Bal­ances bezüglich der Macht des Wis­sens gibt. Woher stammt es, welche Meth­o­d­en wur­den benutzt, ste­hen diese Meth­o­d­en nicht im Kon­trast zu einem Begriff von Wis­sen, der zugänglich­er und demokratis­ch­er ist? Ist Erfahrung auch eine Wis­sensquelle? All diese Fra­gen müssen beant­wortet wer­den.

In vie­len Köpfen scheint ein ver­meintlich­er Gegen­satz zu existieren: „Exzel­lenz vs. Vielfalt“. Wie kommt das – und warum ist es hin­der­lich für einen Par­a­dig­men­wech­sel hin zu vielfältigem Wis­sen?

In vie­len Köpfen existiert dieses Bild, weil Exzel­lenz einen Kör­p­er hat­te, ein Gesicht. Exzel­lenz wird mit Homogen­ität ver­bun­den. Mit weißen Män­nern aus dem glob­alen Nor­den. Wer „Exzel­lenz vs. Vielfalt“ denkt, hat diese Norm gar nicht infrage gestellt. Vielfalt kann exzel­lent sein. Aber in der Exzel­lenz schwingt Ver­di­enst mit, das Glaubenssys­tem der Mer­i­tokratie – das in diame­tralem Gegen­satz zur Gerechtigkeit ste­ht. Ein Diskurs der Mer­i­tokratie wird geführt, um Ungle­ich­heit­en und Diskri­m­inierung zu recht­fer­ti­gen. Uns wird sug­geriert: Diejeni­gen, die im Moment sicht­bar sind, die über Wis­sen ver­fü­gen und Wis­sen pro­duzieren, haben diese Posi­tion ver­di­ent.

Sie schreiben, der glob­ale Nor­den stecke in ein­er Sack­gasse fest und ver­schließe sich dort anderen, nicht-kolo­nialen Wis­sens­for­men. Gibt es einen Ausweg?

Ein Weg wäre, den „Nor­den” zu dezen­tri­eren. Wenn wir uns nur die Weltkarte anschauen, wie sie aufge­baut ist: Europa ste­ht in der Mitte, pro­por­tion­al viel größer dargestellt als andere Kon­ti­nente, etwa Afri­ka. Das müssen wir offen leg­en und debat­tieren. Warum wird die Welt heute fast auss­chließlich aus der Per­spek­tive des glob­alen Nor­dens betra­chtet? Diese Diskurse müssten auch in den Main­stream-Medi­en stat­tfind­en, an den Uni­ver­sitäten – eben in den Sphären der Macht und der Wis­senshier­ar­chie.

Weit­ere Infos:

Emilia Roig

Emilia Zenzile Roig ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Science Po Lyon. Roig lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. 2021 erschien ihr Buch „Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung“.